Kapitel 35
Die Morgensonne warf ihre Strahlen durch die schweren Vorhänge in Gideons Zimmer und kitzelte ihn, sodass er die Augen öffnete. Der Nebel, der seinen Kopf in den letzten Tagen beim Aufwachen erfüllt hatte, war verschwunden. Er erinnerte sich an Dr. Bellows’ letzten Besuch. Vor zwei, vielleicht drei Tagen. Der Arzt hatte gesagt, dass die Wunde genug verheilt war, um die Morphiuminjektionen abzusetzen. Und gestern Abend hatte Gideon auch darauf verzichtet, Laudanum zu nehmen. Mit klarem Kopf aufzuwachen war ein Privileg, das er nie zu schätzen gewusst hatte, bevor er die letzten zehn Tage morgens kaum einen Gedanken hatte fassen können.
Vorsichtig streckte Gideon sich und zuckte bei dem Schmerz in seinem Bauch zusammen. Es schmerzte immer noch sehr, aber nur noch, wenn er sich bewegte. Natürlich hatte das auch etwas mit seinen unerlaubten Ausflügen im Zimmer zu tun, die er seit vier Tagen jeden Nachmittag unternahm. Am ersten Tag hatte er sich kaum auf den Beinen halten können, doch mithilfe der Möbel konnte er sein Zimmer mittlerweile durchqueren. Einen Fußmarsch konnte er noch lange nicht bewältigen, aber wenn er sich stöhnend und schnaufend durchs Zimmer bewegte, merkte er wenigstens, dass er irgendwann wieder seine ganze Kraft haben würde. Etwas, wofür er Gott jeden Tag dankte.
Nach dem langen Liegen, wollte sich Gideon nach links drehen. Wieder durchzuckten ihn Schmerzen. Unwillkürlich zog er die Knie hoch, als er auf der Seite zum Liegen kam. Direkt vor Adelaide.
Seine Augen wurden groß und sein Atem stockte.
Addie.
In seinem Bett.
Sie verzog im Schlaf das Gesicht und schmiegte sich an ihn. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem bezaubernden Lächeln, als sie leise seufzte. Sein Puls beschleunigte sich augenblicklich. Immer noch konnte er nicht atmen. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Schließlich legte er seine Hand an ihre Hüfte.
Sein Blick wanderte an ihr entlang und nahm jedes Detail dieser wunderschönen Frau in sich auf – der Frau, die er liebte. Ihre langen Wimpern lagen auf den gebräunten Wangen und bildeten einen süßen Kontrast zu den Sommersprossen, die sich auf ihrer Nase breitgemacht hatten. Die Haare lagen in offenen Wogen auf dem Kissen. Ihr Hals schwang sich elegant zu ihrem Schlüsselbein hinab, das dann verschwand … in seinem Hemd?
Sein Mund verzog sich zu einem glücklichen Lächeln. Sie trug sein Hemd! Aus irgendeinem Grund machte ihn das noch zufriedener, als sie in seinem Bett zu finden. Sie hätte sich nur deshalb zu ihm legen können, weil sie ihm seine Schmerzen erleichtern wollte. Aber sein Hemd zu tragen? Das war etwas Intimes. Besitzergreifendes. Sie war nicht aus Pflichtgefühl in seinem Bett. Sie war hier, weil sie sich um ihn sorgte. Ihn liebte.
Sein Hemd war bis zu ihrer Hüfte hochgerutscht. Seine Augen wanderten über ihre Beine, deren Zartheit er auch erkennen konnte, obwohl sie eine lange Unterhose trug.
Gideon liebte Addies mitfühlendes Herz und ihren mutigen Verstand, doch er musste zugeben, dass ihm ihr Körper auch gefiel. Sehr sogar. Plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als seine ganze Kraft zurückzugewinnen.
Verschwommene Erinnerungen stiegen in ihm auf, dass sie schon häufiger in seinem Bett geschlafen hatte. Er erinnerte sich an ihre Kleider in einer Ecke seines Zimmers und den Hauch ihres Geruches auf seinem Kissen. Und dann fiel ihm ein, dass sie auch seine Arme festgehalten hatte, wenn er wegen der Schmerzen um sich geschlagen hatte. Dann hatte sie ihn mit sanften Worten beruhigt und ihm Mut zugesprochen. Doch bisher war sie nicht mehr in seinem Bett gewesen, wenn er aufgewacht war. Das würde sich ab heute ändern. Die Freude, die er empfand, war zu groß.
Wie ein Entdecker, der unbekanntes Land erforschte, ließ Gideon seine Hand von ihrer Hüfte hinauf zu ihrer Taille wandern. Er folgte ihrem Arm, ihrer Schulter und ihrem zarten Hals.
Bruchstücke von Dingen, die sie während seines Deliriums zu ihm gesagt hatte, fielen ihm wieder ein. Addie, die befahl, dass er gesund werde müsse, um seine Pflichten zu erfüllen. Addie, die darauf bestand, dass ihre Ehe einen glücklichen Verlauf nehmen würde. Er würde nichts lieber tun, als seinen ehelichen Pflichten nachzukommen – allen von ihnen.
Ihre Lider flatterten. „Gid–?“
Er unterbrach ihre schläfrige Frage mit einem Kuss. Einem leidenschaftlichen Kuss, der ihren Mund eroberte und nichts Zurückhaltendes mehr hatte. Sie war nicht länger Adelaide Proctor, die Lehrerin. Sie war Adelaide Westcott, die Ehefrau.
Seine Ehefrau.
Adelaide brauchte nicht lange, um sich von ihrer Überraschung zu erholen. Sie umfasste seine Schultern und streckte sich ihm entgegen. Sein Puls raste immer schneller. Als sie sich schließlich von ihm löste, wollte er sie nicht ganz hergeben. Er legte seine Stirn an ihre und lauschte ihrer beider hastigen Atemzüge in der Stille des Morgens.
„Fühlen wir uns heute besser?“, fragte Adelaide, als sie ihren Kopf zurück aufs Kissen sinken ließ. Ihre Wangen glühten.
Gideon grinste. „Ein bisschen.“
Er ergriff eine Strähne ihres Haares und fing an, sie um den Finger zu wickeln. Sie schloss die Augen, wobei ein sanftes Lächeln ihre Lippen umspielte. Sein Herz stolperte. Womit hatte er einen solchen Segen verdient? Gott hatte nicht nur sein Leben verschont, sondern er hatte ihm auch noch eine wunderbare Frau geschenkt, die Liebe und Sonnenschein in sein Leben brachte.
Sonnenschein. Hm. Gideon streichelte über Addies Arm und zupfte an dem blauen Stoff seines Hemdes. „Man sieht dich nicht oft in einer anderen Farbe als Gelb.“
Sie öffnete die Augen wieder und sah ihn an. „Als ich das Hemd ausgesucht habe, habe ich mich eher daran orientiert, dass es dir gehört, als darüber nachzudenken, ob es zu meiner Garderobe passt.“ Sie biss sich auf die Lippe. Ihre Hände fuhren unruhig über die Bettdecke, als sie weitersprach. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mir ein Hemd geborgt habe. In der ersten Nacht hatte ich mein Nachthemd vergessen und dann fand ich es sehr bequem in deinen Hemden, also habe ich sie weiterhin benutzt. Auch nachdem ich meine Sachen hier herüber geräumt hatte. Noch etwas, ich habe deinen Kleiderschrank teilweise ausgeräumt und meine Kleider neben deine Mäntel gehängt. Ich hoffe –“
Er legte seinen Finger auf ihren Mund, um ihr aufgeregtes Geplapper zu unterbrechen. „Dein Platz ist jetzt an meiner Seite, Addie. Ich will dich hierhaben. Bring in dieses Zimmer, was immer du willst. Trag, was immer du willst. Alles, was mir wichtig ist, ist, dich an meiner Seite zu haben.“
Sie nickte kurz und schloss die Augen. Eine Träne tropfte auf das Kopfkissen.
Gideons Herz erschrak bei diesem Anblick. Sanft strich er ihr über die Wange.
„Was ist, Addie?“
Sie presste die Lippen zusammen, doch er merkte, dass sie zitterten.
„Ich bin so dankbar, dass ich dich habe. So dankbar, dass du lebst und atmest“, brach es schließlich aus ihr heraus. „Ich habe versucht, daran zu glauben, und für Isabella und die anderen gab ich mich tapfer, aber tief in meinem Inneren hatte ich solche Angst, ich würde dich verlieren.“
Er zog Adelaide an sich wobei er den Schmerz in seinem Bauch ignorierte. Er legte ihren Kopf unter sein Kinn und streichelte ihren Rücken.
„Ich gehe nicht hier weg, Liebling. Ich muss dir doch ein glückliches Ende bescheren.“
Adelaide schniefte. „Das hast du gehört?“, murmelte sie gegen seinen Brustkorb.
Gideon lachte. „Ja, das habe ich, mein Schatz. Und ich habe mir vorgenommen, dir diesen und alle anderen Wünsche zu erfüllen.“
Er besiegelte sein Versprechen mit einem Kuss, der ein Vorgeschmack auf das sein sollte, was noch kommen würde.
* * *
Den Rest des Tages summte Adelaide glücklich vor sich hin. Sie hielt den Unterricht für Isabella sehr kurz, da sie sowieso nur an ihren Ehemann denken konnte. Als Gideon am Nachmittag darauf bestand, dass man ihm in den Salon half, fand sie einen Grund nach dem anderen, um dort bei ihm zu sein. Ihr Herz jubelte darüber, dass er wieder lächelte. Seine wunderbaren Grübchen waren endlich zurückgekehrt.
Das freundliche Lächeln, das er ihr schon oft geschenkt hatte, ließ ihr Herz jedes Mal schneller schlagen, aber er hatte eine neue Waffe in sein Arsenal aufgenommen. Er warf ihr ein freches und gleichzeitig wissendes Lächeln zu, das sie an zärtliche Küsse und starke Arme denken ließ. Jedes Mal glühten ihre Wangen und ein Flattern entstand in ihrem Magen. Der Mann war ein Schwerkranker, der in einem Hausmantel von einem Berg Kissen aufrecht gehalten wurde. Und doch fesselte sie sein Lächeln wie nichts anderes auf der Welt – denn dann war er stark und männlich und zärtlich zugleich. Adelaide liebte ihn jeden Tag mehr.
Jetzt stand sie am Küchentisch, schnitt Körnerbrot klein und warf es in eine Schüssel. Gideon hatte sich beschwert, dass er nichts zum Kauen bekam. Er hatte behauptet, von einem Mann könne man nicht erwarten, dass er seine Gesundheit zurückerlangte, wenn er nur Babynahrung zu sich nehmen dürfe.
Er hatte sie um ein Steak mit Bratkartoffeln und Röstzwiebeln angefleht. Sie hatte zugestimmt, ihm in Milch getauchtes Brot zu servieren, worüber er gejammert hatte wie ein kleiner Junge. Sie hatte gelacht und ihm eine Belohnung versprochen, wenn er sich benahm wie ein Erwachsener.
Daraufhin hatte er ihr wieder einen dieser ganz besonderen Blicke zugeworfen und versprochen, auch den letzten Krümel aufzuessen. Bei den Worten ihres Ehemannes hatten sie aufregende Gedanken erfasst, sodass sie errötend aus dem Zimmer gegangen war.
Wie lange brauchte eine Frau, um sich an ihren Ehemann zu gewöhnen und wieder klar denken zu können? Adelaide musste über ihren rasenden Herzschlag lächeln. Denken wurde vielleicht sowieso überbewertet.
Adelaide schüttelte über diese albernen Gedanken den Kopf und griff die Milchkanne, um den Inhalt über die Brotkrumen zu gießen. Danach nahm sie die Schüssel, um sie ihrem Mann zu bringen, als plötzlich ein Schuss die Luft zerriss. Adelaide zuckte zusammen und verschüttete die Milch auf dem Küchenboden.
Bevor sie noch einmal Luft holen konnte, hörte sie schwere Schritte auf der Veranda, die sich der Küchentür näherten. Adelaide öffnete die Schublade zu ihrer Rechten und zog ein Messer hervor.
Die Tür flog auf. „Señora Westcott, wir haben Besuch.“
Als sie Miguel erkannte, ließ sie das Messer in die Schublade zurückfallen, doch ihr Herz raste weiter. Der Doktor wurde erst morgen wieder erwartet. Wenn es der Pfarrer oder ein anderer Mann aus der Stadt war, hätten die Wachen nicht geschossen.
„Wer ist es?“
Der Vorarbeiter blickte sie grimmig an. „Er gab mir das.“ Miguel überreichte ihr eine Visitenkarte.
Adelaide biss sich auf die Lippe, als sie sie entgegennahm. Sie runzelte die Stirn, als sie die teure Goldumrandung sah. Der Rechtmäßige Ehrenwerte Viscount Petchey erbat sich eine Audienz. Adelaide sah Miguel fassungslos an. Ihre Gedanken rasten. Gerade jetzt, wo es Gideon ein wenig besser ging, stand das Unheil persönlich auf der Türschwelle.